Eine ungewöhnliche Zeit.
Letzte Woche war von allen Ecken und Enden Unruhe zu spüren. Das Knistern lag förmlich in der Luft – ob in den Supermärkten, an öffentlichen Plätzen, vor der eigenen Haustüre. Sie schlich sich ein – es war wie ein Sog, immer wieder war ein ungutes Gefühl wahrnehmbar. Auch meinem Hund Balou stellten sich in regelmäßigen Abständen die Nackenhaare auf.
Heute – knapp eine Woche nachdem angekündigt wurde, dass das soziale Leben auf ein Minimum reduziert werden sollte – nehme ich ein anderes Bild wahr. Ruhe ist eingekehrt: Auf den Straßen, in den öffentlichen Verkehrsmitteln, in den Büros und auch am Himmel. Und eben nicht nur hier – auch die Stimmung hat sich verändert, hat sich umgekehrt.
Es wirkt friedlicher, bedächtiger. Achtsam ist wohl das passendste Wort. Vielgehört in der Yoga-Praxis, in Meditationseinheiten und in Coachings. Jetzt hat die Achtsamkeit uns auf eine ganz andere Art erreicht und ist greifbarer denn je. Ganz nebenbei erreichen uns täglich Nachrichten, die uns zeigen, wie Flora und ganz besonders Fauna auf eine Art und Weise zurückkehren, wie wir es wohl nicht erwartet hätten: Delfine zeigen sich in den Häfen, das Wasser in den venezianischen Kanälen ist klar bis zum Grund und kleine Fische lassen sich darin beobachten. Auch bei meinen täglichen Spaziergängen mit Balou nehme ich wahr, dass die Natur sich zeigt, wie nie zuvor.
Mir ist klar, dass es stark mit meiner Wahrnehmung, meinem Fokus zu tun hat. Doch in Gesprächen mit meinem Umfeld zeigt sich, dass diese starke Präsenz der Natur auch dort wahrgenommen wird. Intensität und Fülle sind geradezu spürbar – auf eine Art und Weise, die Hoffnung, Zuversicht und Freude keimen lässt. Und so nehme ich wahr, dass es uns die Natur vormacht: Fülle ist unsere Natur.
So wie die Natur dorthin zurückkehrt, wo wir sie schon lange nicht mehr in der Stärke und Intensität wahrnehmen durften, darf auch die Fülle in uns zurückkehren. Die Fülle an Hoffnung und Freude. Und um zu dieser Fülle zu kommen, dürfen wir uns eines ebenfalls von der Natur abschauen: Die Vergebung.
Und hier gehe ich nochmals auf die Tierwelt in den italienischen Gewässern ein: Kaum reduziert sich der Mensch auf das Wesentliche und wendet sich in die Stille, in sein Inner(st)es, kommt Klarheit, Friede und neues Leben zurück. Ohne Groll, ohne Verzögerung, ohne Vorwürfe. Die Natur ist – so, wie sie ist.
Das was ich bei uns Menschen – bei mir – wahrnehme, ist, dass wir die Gefühle und Emotionen, die wir über den Verlauf unseres Seins ansammeln, schön in den Rucksack packen und mitschleppen. Wir schauen, dass stets alles gut verstaut ist, ja nichts rauskommt. Regelmäßig öffnen wir ihn nur, um weiter reinzupacken, was wir an Erfahrungen machen, die uns verunsichern, traurig oder wütend oder verbittert machen. Nur um ihn dann wieder gut zuzuschnüren und weiterzutragen. Und wenn dann jemand kommt und an unserem Rucksack rüttelt, dann beginnen wir unter der Last des Rucksacks zu taumeln. Wir fühlen uns angegriffen. Wenn dieses Chaos sich nicht schnell wieder beruhigt, dann kann es sein, dass wir den Rucksack abnehmen, um ihn zu öffnen und etwas davon auszupacken und sichtbar zu machen – nicht für uns selbst, sondern um dem Anderen zu zeigen, dass mit dem Inhalt dieses Rucksacks nicht zu spaßen ist.
Doch was wäre, wenn wir uns jetzt die Natur zum Vorbild nehmen? Den Rucksack öffnen? Und zwar ohne, dass jemand anderes daran rüttelt. Und wir uns die Inhalte Stück für Stück in Ruhe anschauen, die das Wasser in uns über die Zeit hinweg immer trüber erscheinen lassen haben. Und zwar in folgender Haltung:
„Ich erkenne Dich jetzt, [benenne das Gefühl, die Emotion, die Du wahrnimmst]. Ja, Du bist jetzt da. Ja, dich habe ich mitgetragen und ja, es ist jetzt Zeit, dich gehen zu lassen.
Ich vergebe mir, dass ich dich solange mitgetragen habe.
Jetzt ist die Zeit dich in Ruhe anzuschauen und dir bewusst die Aufmerksamkeit zu schenken, die Du schon so lange unter meiner Oberfläche einforderst.
Ich verstehe jetzt, dass loslassen nicht verdrängen heißt. Verdrängen, indem ich dich gut in den Rucksack bette und mitschleppe, wohin ich auch gehe – das weiß ich jetzt, das spüre ich jetzt.
Loslassen bedeutet, dass ich Dich bewusst anschaue, und aufmerksam werde, wo in meinem Körper ich dich fühle. Dann, wenn ich dich im Körper fühle, kann ich dich mit meinem Atem transformieren und schauen, was sich dahinter verbirgt, was ich jetzt daraus lerne. Und über den Atem lasse ich dich dann gehen.
Und wenn sich in diesem Prozess vor meinem inneren Auge noch eine Person oder eine Erfahrung auftut, die Verletzungen in mir hervorruft, dann atme ich solange tief durch, bis eine gewisse Form von Ruhe einkehrt. Jetzt nehme ich eine neue Perspektive ein, ich suche mir zumindest eine Erfahrung oder Eigenschaft, für den/die ich dieser Person oder dieser Situation dankbar bin. Ich schreibe es auf und mit dem Aufschreiben, lasse ich alles, was mir nicht mehr dient, aus dem Körper auf dieses Stück Papier fließen.
Jetzt lasse ich los. Jetzt vergebe ich. Ich vergebe. Ich vergebe den Anderen und ich vergebe mir. Das Wasser, dass so lange trüb war, wird klar, ich sehe zum Grund. Ich sehe mich. So, wie ich bin.“
Ohne schweren Rucksack bin ich wieder flexibler. Ich bin offener für Menschen, die mir begegnen. Es gibt nichts mehr, woran andere rütteln müssten, um mich auf die Gelegenheiten aufmerksam zu machen, bei denen ich blindlings vorbeigelaufen bin. Zu sehr damit beschäftigt, das Gewicht im Rucksack auszubalancieren, um nicht noch mehr an Gepäck einzustreifen – es könnte ja noch mehr dazu kommen.
Jetzt – so ohne alten Ballast – sehe ich klar – ich erkenne Gelegenheiten, kann abwägen, ob mir das gut tut, ob mir das entspricht. Ich erkenne die Fülle, die rund um mich herum ist. Ich weiß jetzt auch, wie es sich anfühlt, hineinzuspüren, was die Gelegenheit gerade mit mir macht. Mit dem Atem zu erfahren, ob es mir gut tut und aus der zukünftigen Betrachtung der neuen Situation heraus zu entscheiden – es könnte ja gut sein.
Und so lege ich den leeren Rucksack ab – denn ich vergebe. Und jetzt bin ich bereit in der Fülle zu leben. In meiner Natur. So wie Kinder, die sich im spielerischen zanken, auseinandergehen, Zeit für sich nehmen und dann aus der künftigen Betrachtung des neuen Spiels wieder entscheiden auf einander zuzugehen und wieder gemeinsam zu spielen.
Fülle ist unsere Natur - Vergebung der Schlüssel dazu.
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